F a m i l i e n Q u i r i n g


  Helmut Wilhelm Quiring, Dortmund, * 1928, + 1997

Stationen des Lebens von Helmut Quiring, Dortmund, Nordrhein Westfalen, Germany: 

Helmut Quiring war ein leidenschaftlicher Leser. Er deckte sich manchmal mit Büchern regelrecht ein. Und früher, als man Romane noch an den Lottoannahmestellen leihen konnte, kam es vor, daß er sich noch dort, in dem kleinen Laden, auf einem Hocker sitzend, vollkommen in einem Buch verlor. Ein Buch konnte ihn fesseln, konnte ihn Zeit und Müdigkeit vergessen lassen. Bis in die Nacht hinein lag er dann wach und fieberte über den bedruckten Seiten. Die Zeit? Vergessen. Der Schlaf? Später. Er hat auch so gelebt! Er hat das, was er tat, auch so getan: Leidenschaftlich. Selbstvergessen. Mit ganzem Herzen. Schon seine Jugend war von diesem markanten Wesenzug geprägt. 1928, am Ausgang der 
, in Dortmund, in der Paulinenstraße geboren, ließ sich der Junge von dem

faszinieren und begeistern, was auch die meisten Erwachsenen mitriß, die es vielleicht hätten besser wissen müssen: Von den Werten und Zielen des Dritten Reiches. Als zarter, sensibler Junge wurde er Pimpf in der HJ, und als Sechsehnjähriger Wehrmachtssoldat an der Front. Und als er nach kurzer Kriegsgefangenschaft zurückkam, machte er die erschütternde Erfahrung seiner ganzen Generation: Nicht nur die Heimat war in Trümmern, nicht nur seine Stadt war zerstört, sondern auch die Hoffnungen und Träume einer Jugend. Ist es ein Wunder, daß es den Männern dieser Generation schwerfiel, über ihre Gefühle zu sprechen? Wenn sie lieber den Schmerz über ihre betrogene Jugend vergessen wollten und sich dem Wiederaufbau widmeten? Das tat auch mein Vater. Und er tat es mit der ihm eigenen Hingabefähigkeit. Anfang der vierziger Jahre hatte er bei der Werksunion, den späteren Hoeschwerken, eine Lehre als Maschinenschlosser gemacht. Nach der Kriegsgefangenschaft begann er in dem gleichen Betrieb zu arbeiten und blieb ihm sein ganzes langes Arbeitsleben lang treu. Der Betrieb war sein zweites Zuhause. Auch Hoeschianer war er von ganzem Herzen. Auch in seiner Arbeit war er leidenschaftlich, auch von ihr ließ er sich fesseln. Er nahm zunächst zusätzliche Schichten an, um seiner Familie die wirtschaftliche Grundlage zu sichern, er verschaffte sich Anerkennung und Respekt, so daß er betriebsintern zum Meister befördert wurde. Er drückte als Vierzigjähriger noch einmal die Schulbank, um auch vor der Industrie und Handelskammer Dortmund seine Meisterprüfung abzulegen und so bei Hoesch den Status eines Angestellten zu erlangen. "Wenn man etwas richtig anpackt, dann schafft man es auch" - so sein Motto, "man muß es nur wollen, und dann in Angriff nehmen und bis zum Ziel durchziehen." So wie man ein Buch in einer Nacht durchliest. Und mit dieser Zielstrebigkeit und Gradlinigkeit hat er auch für die Familie gesorgt. Was Vater für uns war, wird vielleicht am deutlichsten an einem der Großprojekte seines Lebens: Er baute ein Haus. Aus eigener Kraft, mit seiner Hände Arbeit schuf er buchstäblich ein Zuhause für uns. Dieser Bau hat ihn viel Lebenskraft gekostet. Aber so wollte er das: Etwas schaffen aus eigener Kraft, sein Herzblut geben, und dann sagen können: "Ich bin glücklich, daß ich das geschafft habe."hieß sein Spruch: Nicht lange fackeln, nicht viel diskutieren, die Schüppe in die Hand nehmen und anfangen zu graben. Diese Entscheidung prägte auch sein soziales Leben, die Art, wie er Mensch unter Menschen war - Mitmensch eben! Schon 1947 wurde er Mitglied der IG-Metall. Ein Mann wie er - gradlinig, aufrichtig, hartnäckig - pflegte nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten. Ein Bekannter sagte von ihm: "Er fürchtete weder Tod noch Teufel, wenn es darum ging, die Wege zu betreten, die er für die richtigen hielt und das Ziel zu verfolgen, das er sich vorgenommen hat." Natürlich kann so ein Mensch gar nicht pflegeleicht sein, natürlich wird er immer wieder unbequem. Mit dieser zielstrebigen, unbequemen Art setzte er sich zum Beispiel als Mitvorsitzender der Elternpflegschaft der Volksschule dafür ein, daß aus der evangelischen Siemensschule und der katholischen St. Anna-Schule, die damals unter einem Dach, in einem Haus, getrennt arbeiteten, eine überkonfessionelle Schule wurde. Und diese unbequeme, zielstrebige Art war wohl auch die Voraussetzung, um in einem weiteren Großprojekt seines Lebens zum Erfolg zu kommen. Vater war erster Vorsitzender der Siedlergemeinschaft Dorstfeld-Süd. Und als sich in den achtziger Jahren, nach dem Bau der Siedlung, herausstellte, daß der Baugrund, auf dem die Häuser errichtet wurden, verseucht war, ließ der leidenschaftliche Mann seinen Protest bis in die höchsten politischen Ebenen laut werden. Auf einer denkwürdigen SPD-Versammlung, an der auch der damalige Parteivorsitzende Willy Brand teilnahm, meldete sich Vater zu Wort. Der Bundestagsabgeordnete des SPD-Wahlkreises wollte ihn zurückpfeifen, und Willy Brand sagte: "Laß diesen Mann reden!" Vielleicht hatte er ja gespürt, daß sich hier einer zu Wort meldet, der sich nicht so ohne weiteres zurückpfeifen läßt. In einem anschließenden Privatgespräch sicherte Willy Brand gegenüber meinem Vater seine Hilfe für die Siedlergemeinschaft zu. Die Stadt zahlte Entschädigungen, die besonders betroffenen Bewohner der Kernsiedlung konnten ihre Häuser an die Stadt zurückverkaufen und mit dem Geld eine neue Existenz aufbauen. Damals ist Vater in die SPD eingetreten. Er hat diesen Erfolg nie an die große Glocke gehängt. Vielleicht hat er im Stillen ähnlich gedacht wie nach dem Hausbau: "Ich bin glücklich, daß ich es geschafft habe!" Das war Vater. Auch wenn Vater Karten spielte, war er mit ganzem Herzen dabei. Er war ein leidenschaftlicher Kartenspieler und hat der Mutti einmal gestanden, daß er jeden Tag Karten spielen könnte. Über einem Buch, am Arbeitsplatz, beim Hausbau, bei der Versorgung der Familie, in der Verantwortung als Bürger, beim Spiel - was er tat, tat er mit Leidenschaft, selbstvergessen und mit ganzem Herzen. So war Vater. Sein Lebenskreis schloß sich am 28. Januar. Bezeichnenderweise litt er an dem Organ, dessen ungeteilte, leidenschaftliche Kraft er Zeit seines Lebens in alles investierte, was er tat - an seinem Herzen. Montags saß er noch mit uns zusammen beim Grünkohlessen, spielte Skat und abends ging er zu Bett, um nicht mehr aufzuwachen. Wie ein Mann nach einem langen Arbeitstag.

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